Montag, 17. Dezember 2012

Getriebeschaden

Blick über ein Tal in den Pyrenäen
Und dann stell Dir vor, das Auto fährt nicht weiter. Die Gänge springen immer raus, weil zwei südfranzösische KFZ-Mechaniker zu viel und das falsche Öl ins Automatikgetriebe gegossen haben. Du schüttelst dich und denkst daran, wie du schon seit drei Stunden auf der Autobahn Richtung Lyon unterwegs sein wolltest. Du musst doch nach Hause, morgen arbeiten, übermorgen Termine, deine Wohnung kühlt aus und womöglich hat im Abwaschbecken der Küche etwas Kaffeesatz jetzt noch mehr Zeit, in der Tasse ein paar Schimmelsporen anzusetzen.

Und dann zündest Du auf dem Hof der Autowerkstatt eine Zigarette gegen den Widerstand des Windes an. Ein paar Ponyhaare werden angesengt, während du denkst, wie hell doch das Blond in der Sonne aussieht. Sind das wirklich deine Haare, deine zitternden Finger, deine dreckigen Schuhspitzen? Und nach ein, zwei im Kopf vorformulierten E-Mails und einem Anruf erinnerst du dich wieder, was du in diesem Jahr schon so oft vergessen hast: Das System ist viel flexibler als du denkst. Wenn du da bist, ist es gut. Wenn nicht, ist es auch nicht so schlimm.

Du wunderst dich, warum du unbedingt wolltest, dass der Zeitplan eingehalten wird. Warum du zurück wolltest, in das Geflecht Alltag, wo du doch das Gefühl des Wegfahrens im Bus zum Flughafen als eines der Schönsten empfandst. Nicht den Flug selbst oder das Ankommen, sondern die Minuten davor, zu wissen, du bist noch hier und wirst nicht bleiben.

Und dann folgen zwei weitere Tage voller Vor-einem-Ofen-Sitzen, Verlorengehen auf Spaziergängen mit dem Hund, Blicken über das entfernte Mittelmeer und die Schneekuppen der Pyrenäen und verfrorenen Nächten auf Hausdächern auf Jagd nach Sternschnuppen. Und du fragst dich: Wer hat den Getriebeschaden?

Dienstag, 4. Dezember 2012

When the signs say “Disappear here”

Disappear-here1
Es war wenige Minuten vor Schließzeit. Der Kaisers beinahe leer. Ich wollte nach Hause. Manchmal denkt man, das Vorhandensein von mehr als zwei Bier und einer halbleeren Tube Senf im Kühlschrank mache ein Zuhause ein richtigeres Zuhause. Eines, um das man sich kümmert und das man stets so hinterlässt, dass es sich freut, wenn man zurückkommt.

Ich starrte in fremde Einkaufskörbe. Neidisch, auf das System und den Plan hinter den ausgewählten Produkten.Ich fing auf der Suche nach meinem eigenen Plan nochmal von vorne an. Ging zu der Antipasti im Eingangsbereich zurück. Merkwürdige italienische Teigbällchen glotzten mich an. Man musste nur aufschauen, schon sprang der Käse aus seinem Kühlregal. Alles war laut und bewegte sich. Ich sah zum Gemüse, in der Hoffnung, das wirke beruhigend. Kartoffeln vielleicht. Sie kommen aus der Erde – sicher muss man sie nur anfassen. Schon zweimal hatten mein Korb und ich das Kühlregal mit den Ökomilchprodukten umkreist.

Mir wurde schwindlig. Warum ist es so unfassbar hell in Supermärkten – steigert das die Kaufbereitschaft? Ich musste vom Gemüse weg, ich brauchte ja gar keines – meine Meerschweinchen waren vor kurzem ausgezogen. Ich fürchtete, in den glatten, grau-melierten Fußbodenfliesen zu ertrinken. Auf die Linien treten. Immer. Vor dem Brotregal blieb ich stehen. Brot braucht jeder von Zeit zu Zeit. Hier konnte ich bleiben. Der Korb wechselte vom linken auf den rechten Arm und wieder zurück. Ich drehte Däumchen. Man steht vor dem Brotregal und dreht Däumchen. Ich überlegte kurz, ob meine Lippen hörbare Laute formten, als ich diesen Satz dachte. Die Bewegung meiner Daumen war beruhigend. Es war etwas, dass ich steuern konnte, das in meiner Gewalt lag. Jederzeit könnte ich aufhören mit dem Däumchen drehen, redete ich mir ein. Weiter. Der Anblick ungarischer Salami löste einen Würgereiz aus. Ich dachte an den Geruch von Salz. Manchmal riecht Salz so stark, es sticht in der Nase. Zucker riecht nicht. Der ist bloß da. Durchsichtig.

Die Regale wankten in ihren Gängen. Die Produkte rollten auf dem Boden herum, dass man stolperte. Aus den oberen Reihen fielen Cornflakespackungen heraus, die großen, die Familienpackungen. Manche platzten, ich glaubte, ein Knirschen unter meinen Schuhen zu hören. Meine Wanderschuhe zermalmten Cornflakes, endlich wusste ich, warum ich sie in der Stadt trug. Ich lief schneller und fand mich auf dem Weg zur Kasse.

Luft. Draußen zwang ich mich feuchte Luft zu atmen. Der Gedanke, die Wohnungstür hinter mir zu schließen und an ihr entlang nach unten auf den Flurfußboden zu rutschen um dort sitzen zu bleiben, kaum auf. Auch die Straßenschilder tanzten jetzt. Autos gewährten sich gegenseitig die Vorfahrt, während die Scheinwerfer nach wenigen Metern im Nebel verloren gingen. Ich schaute diesem einen Auto nach. Es kam von rechts und hatte schon lange vorher begonnen, links zu blinken. Blinken ist unnötig, dachte ich. Blinken ist unnötig, weil man damit lange vorher eine Entscheidung trifft, wo man hinfahren will. Eigentlich hat man jedoch Zeit, bis man auf der Mitte der Kreuzung steht. Ich sah es genau: Wenn man auf der Mitte der Kreuzung steht und dann das Lenkrad einschlägt, selbst dann gelingt es noch, in eine Richtungen abzubiegen. Meine Beinesetzten sich voreinander. Fingen sie nicht auch an zu blinken? Ausschalten würde ich sie nicht können. Nicht mehr heute. Sie blinkten dann bis morgen durch. Die Haustür sprang auf, im Treppenhaus war noch Licht. Ich hoffte, niemandem auf den Stufen zu begegnen, Angst vor der Unfähigkeit, mit den blinkenden Beinen noch rechtzeitig auszuweichen.

Wieder hatte ich meinen Briefkasten nicht aufgeschlossen. Es könnte ja was drin sein. Aber ich hatte ja auch keine Hand frei, sagte ich laut als ich die Tür von innen schloss. Ich sah auf meine Hände, die gerade den Linoleumfußboden berührten, als ich mich im Schneidersitz vor den Kühlschrank setzte. Der Einkaufsbeutel neben uns – dem Kühlschrank und mir. Ich hatte Brot gekauft, sah ich. Die kleine Packung, für Singlehaushalte. Schimmeln wird es trotzdem. Da war noch eine Packung Ziegenkäse. Mittags hatte ich in einem Blog ein Foto gesehen. Die Unterschrift lautete: „Ziegenkäsebrot mit Aprikosenmarmelade“ erinnerte ich mich. Das Glas Marmelade wanderte aus dem Beutel in das oberste, leere Fach. Auch eine Packung Orangensaft kam zum Vorschein. Ich stellte sie in die Tür des Kühlschranks. Dort stand noch eine halbe Flasche Hohes C. Ich schloss die Kühlschranktür ohne sie herauszunehmen und wegzuschütten. Ich wusste ja schließlich, dass die Flüssigkeit schon vergammelt war. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Kühlschranktür und spürte Magneten und Postkarten auf meiner Wirbelsäule. Erst abbiegen, wenn es beinahe zu spät ist und manchmal erst danach sehen, wo man lang gekommen war. Dann fürchtet man auch die Urtiere nicht mehr, die sich in jedem Supermarktgang verbargen.

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